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Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig

Leipzig
Portrait von Nora Pester
In Zusammenarbeit mit

„Jüdisches Leben von heute sichtbar machen"

Es war der berühmte Sprung ins kalte Wasser. Quasi über Nacht wurde aus der Angestellten Nora Pester die Unternehmerin. Aus der Marketingspezialistin die Verlegerin. 2010 war das, als sie auf Empfehlung eines gemeinsamen Freundes den Hentrich & Hentrich Verlag Berlin übernahm und die Nachfolge des 2009 verstorbenen Inhabers Gerhard Hentrich antrat. Der Berliner Verleger hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten unschätzbare Verdienste um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Rekonstruktion jüdischen Lebens erworben.

Themen, die sich bis heute im Verlagsprogramm finden. Daneben hat Nora Pester aber auch neue Schwerpunkte gesetzt und den Blick ins Aktuelle erweitert. „Wir müssennach wie vor die NS-Zeit aufarbeiten und die verwischten Spuren jüdischen Lebens wieder sichtbar machen. Aber ebenso wichtig ist es, heutiges jüdisches Leben, jüdische Kultur und Religion vorzustellen.“

Die programmatische Erweiterung hat dem Verlag auch neue Lesergruppen beschert. Zwar finden traditionelle Werke wie Gebets- oder Lehrbücher nach wie vor ihren Weg in die jüdischen Gemeinden. Das historisch-biographische Programm zieht aber eher ein älteres interessiertes, nichtjüdisches Publikum an. Und mit aktuellen politischen Themen wie dem Nahen Osten oder Antisemitismus erreicht der Verlag heute auch junge, vorwiegend studentische Leserinnen und Leser.

Anspruch und Ziel gleichermaßen ist für Nora Pester, ihren Verlag als Plattform für jüdische Stimmen auszubauen, als neutraler Vermittler und Katalysator jüdischen Lebens. Mit Erfolg. 600 lieferbare Titel und 60 Neuerscheinungen pro Jahr stehen auf der Habenseite.

Nora Pester in ihrem Element. Foto: Christiane Gundlach

Halle war eine Zäsur

Antisemitismus ist ein Thema, dass die promovierte Politikwissenschaftlerin und gebürtige Leipzigerin (wieder) verstärkt umtreibt. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 war ihrer Meinung nach eine Zäsur für die jüdische Gemeinschaft und die ganze Gesellschaft. „Der 9. Oktober steht künftig nicht nur für die Demo 1989 am Leipziger Ring, sondern eben auch für Halle“. Nach Einschätzung von Pester ist besonders seit 2017/2018 der Antisemitismus in vielen Facetten in Deutschland wieder stärker öffentlichkeitswirksam, werden zunehmend Schamgrenzen überschritten. Die Corona-Pandemie habe ebenfalls dazu beigetragen und vermehrt antisemitische Verschwörungserzählungen nach oben gespült.  Dabei sei das politische Herkunftsspektrum breit gefächert. Antijüdische Anfeindungen kämen aus der rechten Ecke, aus islamischen, aber auch aus linken Kreisen. Dadurch fühle sie sich als Verlegerin zunehmend eingeengt. In einem Interview sagte sie einmal über den wachsenden Antisemitismus: „Es ist frustrierend, weil er Platz wegnimmt für aktives jüdisches Leben. Ich würde dem gerne mehr Raum geben.“

Umzug mit Folgen

Mehr Raum bekam auch der Verlag nach dem Umzug von Berlin nach Leipzig 2018. Nora Pester erinnert sich: „Das war zunächst eine ganz pragmatische Entscheidung. Mit einer angekündigten Mieterhöhung um 150 Prozent war Berlin einfach nicht mehr zu halten.“ Schnell stellte sich aber heraus, dass der Umzug in ihre Heimatstadt doch kein „profaner Ortswechsel“ war, sondern auch ein Ankommen in der Heimat der größten jüdischen Gemeinde Sachsens sowie zahlreicher Initiativen zu jüdischer Kultur, Zeitgeschichte und Erinnerungskultur. Verlag und Verlegerin waren plötzlich viel mehr als zivilgesellschaftliche Akteure gefordert, als das am bisherigen Standort Berlin der Fall war. Neben ihrer verlegerischen Tätigkeit leistet Nora Pester nun zusätzlich viel Gremienarbeit, z.B. als Vorstand im Netzwerk Jüdisches Leben e. V. und als Kultursenatorin der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Engagement, das 2022 in ein Buch über jüdisches Leben in Leipzig mündete.

Jüdisches Leipzig. Foto: Hentrich und Hentrich

Impulse setzen und Debatten anstoßen, das ist mittlerweile ein wichtiger Bestandteil ihrer Verlagsarbeit. Übers Jahr gesehen, nimmt die Verlegerin an rund 100 Veranstaltungen teil, von der Lesung bis zur Diskussion über ein künftiges jüdisches Museum in Sachsen. Zusätzlich zum Büchermachen, und: ehrenamtlich! Im Grunde nehme sie Aufgaben wie eine institutionell geförderte Einrichtung wahr, so Nora Pester. Das sei kräftezehrend und führe immer wieder zum Konflikt mit den eigenen Kapazitäten. Oder drastischer ausgedrückt: „Von Debatten kann man nicht leben“.

Einen Konflikt, den sie bei vielen anderen unabhängigen Verlagen ebenfalls beobachtet: „Einerseits werden Verlage als kommerziell eingestuft, andererseits sollen sie das von der Gesellschaft quasi eingeforderte gesellschaftliche Engagement leisten. Aber das geben die Strukturen nicht her.“ Ihre Lösung: „Die unabhängigen Verlage brauchen eine strukturelle Förderung, damit sie diesen Spagat leisten können.“ Ansonsten würden sie und die mit ihnen verbundene Debattenkultur verschwinden.

Und so ist der Sächsische Verlagspreis, mit dem die Verlegerin jüngst ausgezeichnet wurde, für sie ein Schritt in die richtige Richtung, weil er „in der Breite fördert“. Dennoch brauche es – über die sächsischen Landesgrenzen hinaus – eine starke Lobby für unabhängige Verlage in der bundesdeutschen Politik. Auch deshalb sieht sie der kommenden Leipziger Buchmesse mit Spannung und Freude entgegen. So ein Neustart am eigenen Verlagsstandort sei schon etwas ganz Besonderes.

Foto: Hentrich und Hentrich

Wissenswertes

Wussten Sie, dass Jüdinnen wie Henriette Goldschmidt und Bettina Brenner zu den bedeutendsten Vorkämpferinnen der Frauenrechtsbewegung in Deutschland zählten? Dass es am Brühl mehr als 800 Rauchwarenbetriebe gab, die zumeist von jüdischen Familien geführt wurden? Dass die Musikbibliothek Peters die erste öffentliche, kostenfreie und auch für Frauen zugängliche Spezialbibliothek Deutschlands war? Dass der jüdische Sportverein Bar Kochba auch über Leipzig hinaus Erfolge feierte? Dass die bekannten Jazz-Musiker Rolf und Joachim Kühn hier aufgewachsen sind? Oder, dass Karl Wittgenstein, der Vater von Ludwig Wittgenstein, hier lebte, ebenso wie die Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler, der Verleger Kurt Wolff und die Fotografin Gerda Taro, deren Partner, Robert Capa, hier eines der bekanntesten Fotos zum Ende des Zweiten Weltkrieges schoss? 

Leipzig beheimatete vor der NS-Zeit eine der größten und pulsierendsten jüdischen Gemeinden Deutschlands, und auch heute ist die Stadt wieder Heimat der größten jüdischen Gemeinde Sachsens sowie zahlreicher Initiativen zu jüdischer Kultur, Zeitgeschichte und Erinnerungskultur.  „Jüdisches Leipzig“ lädt dazu ein, Menschen, Orte und Geschichten hinter heute noch sichtbaren, aber auch ausgelöschten oder ins Exil führenden Spuren jüdischen Lebens in der Stadt zu entdecken.

Hentrich und Hentrich

Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Rekonstruktion jüdischen Lebens stehen im Fokus des Berliner und Leipziger Verlags.

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