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Museum der Woche

Der Louvre der Zahnheilkunde

Region Leipzig

Der Louvre der Zahnheilkunde

Leise quietschende Schrauben ziehen Stahlscharniere zusammen. Fester und fester bis der Kopf fixiert ist. Kein links, kein rechts. Wie eine geöffnete Bärenfalle legt sich die kalte Apparatur um den Schädel. Sie dient der Sicherheit des behandelnden Arztes, der Sicherheit des Patienten, dem zusätzlich die Arme auf die Lehnen gebunden werden. Zwei Lederriemen um die Armgelenke machen ein Herumfuchteln unmöglich. Jetzt tritt der Arzt heran, mit Handbohrer und Fräse bewaffnet: „Den Mund jetzt schön aufmachen!“ Die Szene – ausgedacht! Doch drängt sie sich auf. Bei dem beschriebenen Horrorstuhl handelt es sich um einen Zahnarztbehandlungsstuhl aus den 1930er Jahren. Eines von vielen Exponaten, die es im Dental Museum zu Zschadraß zu bestaunen gibt.

Hier in Zschadraß, einem Ortsteil von Colditz, im Mittelsächsischen Hügelland, schlagen Zähne tiefe Wurzeln, durchdringen Kultur und Ideengeschichte, Heilkunst und Wissenschaft. Im beschaulichen Park des ehrwürdigen Klinikgeländes steht Sachsens, steht Deutschlands einziges Dental Museum. Seit 24 Jahren wird hier gesammelt und vor allem bewahrt, wird archiviert und zunehmend digitalisiert. Zähne, Zangen, Zahnstocher, ganze Praxiseinrichtungen und Dentallabore; Zahnanomalien- und Implantatsammlungen; vom Haifischzahn über vollständige Instrumentenkoffer, von Gold bis Amalgam. Schlichtweg alles, was den Zahn füllt, zieht, bricht und heilt. 260.000 Positionen umfasst die größte Fachbibliothek der Zahnheilkunde, aus der sich 4.600 Jahre zahnmedizinische Geschichte zurückverfolgen lassen. Ein Wissenschaftszentrum als Ausgangspunkt für die Forschung. Bescheiden gesprochen, befindet sich im beschaulichen sächsischen Zschadraß nichts weniger als der Louvre der Zahnheilkunde.

Dem Zahn - die Zeit

Das Eintreten in das gelbe Backsteinhaus kommt einem Sprung in eine medizinhistorische Zeitkapsel gleich. Im unteren Stockwerk an den Wänden: Bilder, Drucke, Illustrationen. Der schmerzende Zahn, die obligatorische dicke Backe als epochenübergreifendes Motiv, als kunstgeschichtlicher Ausdruck. Komisch, grob, tragisch, belehrend, einsam machend, Tränen erzeugend. Die unterschiedlichen Darstellungen vom Umgang mit dem Zahnschmerz und dem Kranken im Allgemeinen gewähren einen Blick auf den soziokulturellen Wandel dieses allzu menschlichen Phänomens.

Von den Bildern herab zu den Instrumenten und Werkzeugen in den Vitrinen strömt sie durch die gesamte Ausstellung – die Erzählung vom Zahnschmerz und seinen Beseitigungsmethoden. Kurz gesagt, eine Geschichte des Menschen, vom Zahn her erzählt. Der Mensch: ein Grobian, ein Leidender; ein Problemlöser und Werkzeugmacher, ein Hilfesuchender, ein Wissenschaftler und Hoffender. Die Sammlung schlägt den historischen Bogen von medizinischen Bronzesonden und römischen Pinzetten aus dem 1. - 5. Jahrhundert nach Christus bis zum Einzug der Lasertechnik in der modernen Zahnheilkunde.

Rückblick und Staunen drängt sich auf beim Schreiten durch die Ausstellungsräume. Fortschritt und Wandel flüstert es aus den Vitrinen. Und bei manchem Gegenstand schleicht sich die Erkenntnis ein, dass der segensreiche Fortschritt von einst heute nur noch Fluchtreflexe auslöst. So liefern die zahlreichen Zangenmodelle das veritable Knirschen gleich mit, welches sie einst bei der unbetäubten Zahnextraktion erzeugten.

Klingt anders! Wirkt anders!

Der knarzende, schwere Dielenboden trägt die Besucherfüße zum ältesten Dentallabor der Welt. Zeigt, dass gerade das Wörtchen „filigran“ - bezogen auf die Zahnbehandlung - immer im geschichtlichen Kontext zu verstehen ist. Genauso verhält es sich bei den Objekten selbst. Zwischen Hammer und Hämmerchen liegen Welten. Klingt anders! Wirkt anders!

Aufatmen beim Themenraum der Zahnhygiene. Vorbeugen ist besser als Heilen! Antike Zahnstocherfunde beweisen den Willen unserer Vorfahren, Nahrungsreste im Interdentalraum nicht einfach hinzunehmen. Ob aus ästhetischen oder hygienischen Gründen – das Ziel ist dasselbe. Darüber hinaus wurden sie nicht einfach schnöde abgelegt: Drapiert und in Szene gesetzt wurden die Zahnstocher in extra dafür angefertigten Behältnissen. Zum Beispiel verziert und versilbert um 1840. Der Zahnstocheraufbewahrungsort als Statussymbol. Und nebenbei: Wie zynisch ist eigentlich ein Zahnstocherbehältnis aus Elfenbein?

Und im zweiten Stockwerk? Noch mehr vom Zahn. Diesmal aus evolutionsbiologischer Sicht. Kiefer-, Zahn- und Schädelexponate verschiedener Tiere verschieben und erweitern den menschlichen Maßstab. Ebenso verhält es sich beim Blick auf andere Kulturen. Der Zahn als Kultgegenstand. Rituelle Zahnfeilungen, Färbungen oder kunstvolle Zahndeformierungen gehören bei einigen indigenen Völkern zur kulturellen Praxis. Es zeigt sich, Zähne haben nicht nur eine biologisch-medizinische Ebene, sondern reichen darüber hinaus in eine kulturelle und soziale Sphäre. Von Schamanentum bis Wissenschaft; von schmerzfrei durch Chloroform oder schmerzfrei durch geschabtes Hirschhorn mit Weißwein; von schaurig-schön bis hilfreich-nützlich. Die Ausstellung des Dental Museums spricht vieles beim Besucher an; reicht von Gefühl bis Verstand. Sie erzählt Geschichte und lässt Geschichten entstehen.

Und wer wissen möchte, was die bis ins Detail ausgestattete „Wohlfühlpraxis“ von 1880 mit den Buddenbrooks zu tun hat, der möge dem Dental Museum alsbald einen Besuch abstatten. Dort, wo Zähne tief in kulturellen Räumen und Zeiten verwurzelt sind. Denn da hängt sie – gefärbt, verdreht, geweißt, geputzt, geschliffen, gefüllt, qualvoll lang und doch alles überdauernd – die Zeit. Am Zahn hängt sie. Dem Zahn entspringt sie. Dem Zahn – die Zeit.

Fotos: Dentalmuseum