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„Ich freue mich, ohne Störung über Dinge nachdenken zu können, die mich beschäftigen. Sankt Afra erscheint mir wie ein Ort, an dem ich sein kann, wie ich bin.“

Solche Sätze schreiben junge Menschen, die sich bei Dr. Ulrike Ostermaier, Schulleiterin am sächsischen Landesgymnasium Sankt Afra in Meißen, um einen von rund 300 Plätzen bewerben. Sie suchen „Freiraum für Persönlichkeit“, so der Leitspruch der Schule. In eckige Klammern gesetzt. Eckige Klammern, die für größtmögliche Freiheit des Denkens und der persönlichen Entfaltung stehen. Mit klaren Grenzen und Regeln im Zusammenleben. Was sie hier sein wollen: ein Ort des Forderns und des Förderns. Was sie hier auf keinen Fall sein wollen: ein Eliteinternat mit Schuluniformen, ein Reichenclub oder eine abgehobene Vorzeigeeinrichtung.

Wir haben Ulrike Ostermaier getroffen und ein offenes und sehr persönliches Gespräch geführt.

Frau Dr. Ostermaier, was macht Sankt Afra aus?

Wir sind ein Ort für mehrfach begabte junge Menschen, an dem sie sich und ihr Potenzial in Gemeinschaft entfalten können. Hier erhalten sie optimale Förderung. In unserer Gesellschaft liegt der Fokus häufig auf denen, die nicht so gute Leistungen bringen, die Hilfe brauchen. Das ist gut und richtig. Hilfe brauchen aber auch die Kinder, die überdurchschnittliche Fähigkeiten haben und anders ticken als die meisten anderen Schüler. Um die kümmern wir uns hier und machen Angebote um den unglaublichen Wissensdurst der Jugendlichen zu stillen.

Stankt Afra ist Schule und Internat. Dahinter steckt eine „Ermöglichungsidee“, das heißt, wir stellen im übertragenen Sinne Räume zur Verfügung, liefern  Anregungen, unterrichten. Bildung funktioniert nur in Kombination mit Erziehung. Das ist ein wichtiger Grundsatz für mich. Deshalb tun wir natürlich beides. Es geht um den ganzen Menschen, seine Persönlichkeit steht im Mittelpunkt. Die Schritte auf dem Weg der „Ermöglichung“ muss das Kind aber selbst gehen, gehen wollen.

Wie wird Sankt Afra finanziert?

Wir sind eine Landesschule, die vom Freistaat Sachsen finanziert wird. Die Eltern kommen für die Unterkunft und die Verpflegung auf. Im Vergleich zu Privatschulen ist das sehr viel weniger. Als die sächsische Landesregierung in den 90er-Jahren unter Ministerpräsident Kurt Biedenkopf überlegte, wie wir hochbegabte Kinder und Jugendliche ausbilden und fördern können, wurde dieses Modell erarbeitet. Heute, nach 15 Jahren, kann ich sagen – es ist ein Erfolgsmodell. Das war der richtige Ansatz.

Wie zeigt sich Hochbegabung?

Ganz unterschiedlich. Manchmal, indem die Kinder sehr früh sehr viel können. Die Familie regt an und fördert, Schule und außerunterrichtliche Angebote nehmen sie gern wahr. Trotzdem spüren sie, dass es mehr sein müsste, dass sie eine Veränderung brauchen, um da anzukommen, wo Herausforderung und Erfüllung beginnen. Dann sollen sie häufig Klassen überspringen. Davon halte ich persönlich nicht viel. Denn ein Mensch besteht ja aus vielen Facetten, der Intellekt ist nur ein Teil davon. Manchmal hinkt die sozial-emotionale Entwicklung der intellektuellen sogar hinterher. Wenn das Potenzial von sehr begabten Schülern nicht entdeckt und gefördert wird, langweilen sich viele und stören mitunter sogar den Unterricht. Manche sind unglaublich unglücklich. Die Noten gehen in den Keller, die Schule ist irgendwann für sie ein rotes Tuch. Bei uns wird niemand gemobbt, wenn er Dinge tief ergründen möchte, immer noch eine Frage stellt, freiwillig ein Referat halten möchte oder eher ungewöhnlichen Interessen nachgeht.

Die hauseigene Bibliothek. Hier werden Kinder gefordert und gefördert.

Was führt die jungen Leute oder deren Eltern zu Ihnen, was bringen sie mit?

Uns ist wichtig, das Kind als Person mit all seinen Stärken und Schwächen wahrzunehmen – intellektuell wie emotional und sozial. Wir haben hier Jugendliche, die sind in allen Unterrichtsfächern gut. Sie kommen zu uns, weil ihnen das „normale“ Gymnasium trotzdem „zu wenig ist“. Häufig rufen mich allerdings auch Eltern an, die sich in einer echten Notsituation befinden. Denn manchmal haben sich die Kinder völlig zurückgezogen und befinden sich in einer kompletten Leistungsverweigerung, weil sie in ihren Schulen schlechte Erfahrungen gemacht haben, immer Außenseiter waren, sich unverstanden fühlen und nun in der Pubertät völlig den Halt verlieren. Dann sind alle Beteiligten tief verzweifelt: die Eltern, die Kinder, die Geschwister, auch die Lehrer.

Wie gehen Sie mit solchen Jugendlichen um?

Na ja – die Kinder müssen selbst wollen. Und dann braucht es Geduld, Kraft und Zeit. Manchmal Jahre. Es klappt auch nicht bei allen Schülerinnen und Schülern, ganz klar, aber wir wissen, dass der Weg gelingen kann. Wenn solche harten Fälle, die meist als Seiteneinsteiger (Anmerkung: also nach der siebten Klasse, in der die Ausbildung in Sankt Afra regulär beginnt) zu uns kommen, eine Weile hier sind, verändert sich als äußerlich sichtbares Zeichen die Köperhaltung der Jugendlichen. Die jungen Leute richten sich auf, Blickkontakte auf Augenhöhe entstehen, sie entfalten sich sozusagen und gehen viel aufrechter durch die Gänge. Dann kommt der nächste Schritt.

Die modernen Wohngebäude sind Teil des Internats in Sankt Afra

Warum ist Sankt Afra ein Internat?

Weil es so hervorragend funktioniert. Wir leben hier eine Idee: gemeinsam lernen und leben, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Es ist ein Zusammenspiel aus gemeinschaftlicher und individueller Anstrengung, aus Erfolg und Niederlage, aus Ernsthaftigkeit und Humor – etwas ganz Lebendiges – Leben eben, in dem aus der gegenseitigen Anregung und Unterstützung das Wachsen gelingt.  Um ein Potenzial in Leistung aufgehen zu lassen, bedarf es stetiger Anstrengung. Auch das begabte Kind muss lernen, muss Fleiß entwickeln. Mit Begabung allein ist nichts gewonnen. Die Gemeinschaft eines Internats wirkt sehr positiv. Auch das Erkunden der „Freiräume“ ließe sich nicht realisieren, wenn Kinder am frühen Nachmittag in den Bus steigen müssten, um nach Hause zu fahren. Die generalistische Bildung braucht Zeit, ebenso das Mentoring.  Das Möbiusband ist für uns ein wichtiges Symbol. Es ist benannt nach dem Leipziger Mathematiker und Astronomen August Ferdinand Möbius und steht für die aufrichtige Verbundenheit aller Afraner aus ihrer und in Wahrung ihrer individuellen Verschiedenheit.

Was ist hier für Lehrer anders als an anderen Schulen?

Meine Kollegen und ich werden hier permanent gefordert – intellektuell wie emotional. Wenn Sie bei uns Lehrer sein wollen, müssen Sie sehr kritikfähig sein. Sie müssen sicher sein, was Sie selbst wissen und was nicht. Und dass es im Einzelfall völlig in Ordnung ist, weniger zu wissen als Ihr Schüler. Unsere Schülerinnen und Schüler stellen uns permanent in Frage. Es klingt vielleicht ein bisschen seltsam für Sie: Diese Kinder können Sie nicht blenden, die durchschauen sie. Da müssen Sie sehr authentisch und bei sich sein, sonst klappt es nicht. Und natürlich muss man Lust auf Pädagogik haben, neue Methoden ausprobieren wollen, viel lesen usw.

Was ist Sankt Afra für Sie persönlich?

(überlegt ein paar Augenblicke) Meine größte berufliche Herausforderung, die mich sehr erfüllt und die mich gleichzeitig mit Haut und Haaren in Anspruch nimmt.

Haben Sie ein Motto für Ihre Arbeit?

Mit Lessing: Geduld! Es geht mir immer um die Menschen. Wir bilden und begleiten sie, wollen  psychisch stabile Persönlichkeiten entwickeln, die leisten wollen, bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, unabhängig und frei denken können usw.  Das braucht Zeit, geht nicht ohne Rückschläge. Geduld!

Ungewöhnliches Ritual: Mit dem Frühkonzil startet jeder Tag in Sankt Afra

Gibt es eine Geschichte, die für Ihre Arbeit hier steht?

Och, da gibt es viele. Spontan fällt mir ein Schüler ein, von dem ich kürzlich eine Postkarte bekommen habe, auf der stand: „Danke, dass Sie nie aufgegeben haben.“ J. studiert inzwischen in Oxford. Als er zu uns kam, ging es ihm, seinen Eltern und seiner Schwester sehr schlecht. Wir waren die letzte Hoffnung der verzweifelten Eltern. J. hatte zahlreiche Schulwechsel hinter sich, ging zum Schluss gar nicht mehr in die Schule und saß nur noch am Computer. Wir haben ihn schließlich als Seiteneinsteiger aufgenommen und es hat wirklich lange gedauert, bis er sich gefangen hatte. Aber es hat sich gelohnt, nun geht er seinen Weg.

Mitten im Raum steht eine Porzellanplastik, die ein Schwein darstellt. Frau Dr. Ostermaier, letzte Frage: Warum genau diese Plastik?

(lacht) Die ist von dem Künstler Kristof Grunert, Meißner Porzellan bzw. Böttger-Keramik. Die Plastik heißt „Stoffschwein“ und erinnert mich an die Parabel „Die Stachelschweine“ von Arthur Schopenhauer, einem Gleichnis über Nähe und Distanz. Die Stachelschweine wollen sich wärmen und zusammenkuscheln, merken aber, dass die Stacheln schmerzen, wenn sie zu eng zusammenrücken. Also rücken sie wieder ein Stück voneinander weg, dass es nicht mehr weh tut, sie sich aber dennoch wärmen. Genau darum geht es bei uns. Und wenn ich Erstgespräche mit Eltern und neuen Schülern führe, nutze ich die Plastik häufig, um das zu beschreiben. Denn klar gibt’s bei uns auch Konflikte und Krisen. Die gehören ja immer und überall dazu. Unter der Lupe des Internatslebens treten die manchmal noch stärker zutage. Die Aufgabe ist es, zusammen eine Lösung und einen Kompromiss zu finden.

Frau Dr. Ostermaier: Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.

Zur Person:

Ulrike Ostermaier stammt ursprünglich aus Thüringen. Die promovierte Diplompädagogin für Kunstgeschichte und Deutsch ist seit 2008 Schulleiterin in Stankt Afra. Zuvor unterrichtete sie unter anderem an der renommierten Kreuzschule in Dresden, sammelte Erfahrungen in der Verwaltung und war Direktorin eines Dresdner Gymnasiums. Die 62-jährige ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen.

Fotos: Robert Michael Photography

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