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Museum der Woche

Schlesisches Museum zu Görlitz

Ein Schatz im Schatz

Raschelnd entrollt sich eine alte Landkarte, ein Finger zeichnet Umrisse nach, zeigt auf die Sudeten als südliche Grenze, auf das Riesengebirge, auf fruchtbares Ackergebiet im Norden und östliches Heideland. Oder und Neiße durchströmen das Land, Städtenamen fallen ins Auge: Grünberg, Gleiwitz, Oppeln, Bunzlau, Hirschberg, Görlitz und - dickgedruckt - die Hauptstadt Breslau. In großen Lettern am oberen Rand der Karte prangt, was alle Linien und Punkte, Orte und geografischen Formationen zusammenführt: SCHLESIEN.

Eine Handvoll Europa

Und wenn es einen Ort in Sachsen gibt, der sich der wechselvollen Geschichte dieser einmaligen Landschafts- und Kulturregion vom Mittelalter bis zu Gegenwart widmet, dann ist es das Schlesische Museum zu Görlitz. Mitten im Herzen der Görlitzer Altstadt, in der an beinahe jeder Ecke ein Kulturdenkmal zu finden ist, hat sich im ältesten Renaissance-Gebäude der Stadt – dem „Schönhof“ - ein guter Platz für die Bewahrung des schlesischen Andenkens gefunden. „Der Schönhof ist ein beeindruckendes Baudenkmal, quasi ein Museum im Museum, ein Schatz im Schatz“, sagt Museumsdirektorin Dr. Agnieszka Gąsior. Die beeindruckende Renaissancearchitektur des Schönhofes bilde einen komplementären Kontrast zum modernen Ausstellungsdesign.

Eine Handvoll Europa und doch so bedeutsam, so lehrreich. Wie in einem Brennglas bündelt sich in Schlesien europäische Geschichte. Immer wieder verschoben sich die Grenzen und nationalen Zugehörigkeiten. Nach der Piasten-Dynastie im 13. und 14. Jahrhundert gehörte Schlesien zum habsburgischen Böhmen, dann zum Preußen der Hohenzollern, später zum Deutschen Reich, und seit 1945 liegt der Großteil Schlesiens in Polen.

Doch warum befindet sich ein Museum zur schlesischen Geschichte in Görlitz? War doch die Görlitzer Zugehörigkeit zu Schlesien als preußische Provinz von 1815-1945 vergleichsweise kurz. Und doch steht dieser Zeitraum in der Görlitzer Stadtgeschichte exemplarisch für ein gesamtschlesisches Schicksal. In diese Zeit fallen das wirtschaftliche Erblühen im 19. Jahrhundert sowie Flucht und Vertreibung als Folge des Zweiten Weltkrieges. Nach 1945 wurden Grenzen neu gezogen. Heute befindet sich östlich der durch Görlitz fließenden Neiße das schlesische Kernland auf polnischem Boden. Görlitz bildet dabei einen idealen Ausgangspunkt, dieses zu entdecken. Es ist sozusagen das Tor zu Schlesien.

Schlesische Kostbarkeiten

So vielschichtig wie das Land selbst, sind auch seine Handwerks- und Kulturgüter. Aus dem Reichtum an diversen Bodenschätzen resultieren Kostbarkeiten aus unterschiedlichsten Materialien. So stammen aus Breslau qualitätsvolle Gold- und Silberschmiedearbeiten, Keramik aus der alten Töpferstadt Bunzlau, kunstvoll geschliffenes Prunkglas aus den Glashütten des Riesengebirges, Porzellane aus dem Waldenburger Land, Fayencen aus Proskau, Eisenkunstguss aus der Gleiwitzer Hütte. Überall funkelt und glitzert es in der Ausstellung. „Unsere Vitrinen, in denen das kostbare alte Kunsthandwerk zur Schau gestellt wird, sind ein absoluter Hingucker!“, schwärmt Dr. Martina Pietsch, im Museum zuständig für Geschichte und Öffentlichkeitsarbeit. Die über tausend Ausstellungsstücke sind stille und doch höchst beeindruckende Zeugen der
schlesischen Vergangenheit, so Pietsch weiter. Jedes Exponat stehe dabei im Kontext der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Epoche – und berichte von technischem und wirtschaftlichem Fortschritt, aber auch von Krisen, Krieg und Machtansprüchen. So beeindruckt das ein Meter hohe silberne Glogauer Altarkreuz mit seiner filigranen Kunstfertigkeit und ist gleichzeitig ein Zeitzeuge der schwelenden evangelisch-katholischen Glaubenskonflikte im Nachgang des Dreißigjährigen Krieges.

Es sind die kleinen Geschichten der Exponate, die den großen historischen Zusammenhang in sich tragen. Denn wer weiß schon, was es mit dem toten Napoléon Bonaparte in einem Miniatursarkophag auf sich hat, der einst in Gleiwitz gegossen wurde?

Dr. Martina Pietsch verweist noch auf einen besonderen Ausstellungsbereich, der den Werken der klassischen, modernen Kunst aus dem Umkreis der Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe gewidmet ist. Hier zeigt das Museum wichtige Arbeiten von Künstlern wie Hans Poelzig, Oskar Moll, Johannes Molzahn und Otto Mueller. Dessen „Selbstbildnis mit Maschka“ (Öl auf Leinwand) entstand 1903 und gehört zu den wertvollsten Werken des Hauses.

„Bin ich noch in meinem Hause?“

Die Geschichte Schlesiens im 20. Jahrhundert bildet einen Schwerpunkt der Ausstellung. „Die jüngste Geschichte Schlesiens von 1945 bis heute zu zeigen, ist eine Herausforderung“, erklärt Museumsdirektorin Dr. Agnieszka Gąsior. Warum? „Weil wir hier den Untergang des alten Schlesiens dokumentieren“, so Gąsior. „Es ist die tränenreiche Seite schlesischer Geschichte, in der die ganze Tragik einer Region zum Ausdruck kommt. Es geht um Verlust - von Kindheit, Heimat und vertrauter Landschaft.“ Der Zweite Weltkrieg, die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Schlesien nach dem Ende des Krieges und die neuen Grenzen durchschnitten Biografien und prägten das kollektive Gedächtnis.

Aus der Summe der vielen Vetreibungsschicksale sticht ein prominentes heraus und gibt dem Heimatverlust ein Gesicht: In Messing gegossen ruht das Antlitz Gerhart Hauptmanns als Totenmaske in der Görlitzer Ausstellung. Kurz bevor er sein Haus im schlesischen Agnetendorf verlassen musste, verstarb der große Schriftsteller. Er, der dem historischen Stoff des Aufstandes der schlesischen Weber von 1844 eine dichterische Form verlieh, soll auf seinem Sterbebett gefragt haben: „Bin ich noch in meinem Hause?“ Und losgelöst von Hauptmanns existenzieller Vergewisserung, scheint dies ebenso eine symbolträchtige Frage zu sein, die das weitere Leben vieler Vertriebener begleitete.

Die Lilie als Zeichen der Erneuerung

Natürlich ist das Schlesische Museum heute auch ein wichtiger Ort des kulturellen und wissenschaftlichen Austausches. Besonders die zahlreichen Sonderausstellungen fungieren als länderübergreifender Brückenschlag innerhalb einer Kulturregion, die sich heute mit Polen, Tschechien und Deutschland auf drei Staatsgebieten befindet.

Die aktuelle Sonderausstellung heißt „Lilienzeit“ und beschäftigt sich mit der Gedankenwelt des Jacob Böhme (1575–1624), jenes Görlitzer Schusters, der heute zu den wichtigsten deutschen Philosophen zählt. Mit seinen fundamentalen Ideen hat Böhme die Literatur, Philosophie, Religion und Kunst über Jahrhunderte nachhaltig geprägt. Er war überzeugt davon, dass sich die Welt wandeln werde, wenn sich die Menschen verändern. In Anlehnung an die Lilie als Symbol der Hoffnung und Erneuerung nannte er die kommende Ära des Friedens „Lilienzeit“. Mit der Schau ehrt die Stadt Görlitz ihren großen Sohn anlässlich seines 400. Todestages – der ganz im Zeichen der Lilie steht - als Zeichen der Erneuerung und Hoffnung auch für die jüngere schlesische Vergangenheit. “Eine Lilie blüht über Berg und Thal/ in allen Enden der Erden: Wer da suchet, der findet“, schreibt Jacob Böhme 1635. Wie treffend. Wie schön. Wie gültig.

Fotos: René Pech / SMG / Udo Meinel