Tradition ist kein Zustand sondern ein Prozess.
Eine Werkbeschreibung
Was heute als überliefert gilt, war zu einem früheren Zeitpunkt mutige Neuerung. Es wurde getragen von Menschen, die an Orten neu anfingen, die neue Techniken entwickelten oder vorhandene anpassten, Formen weitergaben, experimentierten. Andere Menschen folgten ihnen und trugen es durch die Zeit. Das Steigerlied, heute immaterielles Weltkulturerbe, steht exemplarisch für diese Dynamik. Entstanden im Kontext des Bergbaus wurde es angepasst und weitergetragen, über Generationen und Landschaften hinweg durch gelebte und geteilte Erfahrungen und weit über regionale Grenzen hinweg übernommen.
Auch die Klöppelkunst ist Ausdruck einer solchen Bewegung. Geklöppelt wurde bereits im 16. Jahrhundert in Italien. Vermutlich von dort verbreitete sich die Technik über andere europäische Regionen wie Spanien und die Niederlande und fand auch im Erzgebirge ein neues Zentrum.
In der künstlerischen Auseinandersetzung mit diesen Themen entstand eine Verbindung zwischen Material, Geschichte und Körper. Das rohe, schwere Trägermaterial verweist auf die harte körperliche Arbeit unter Tage, auf Schwere, Druck, Spannung, Reibung und die zähe Kraft der Ausdauer der Bergarbeiter. Auch in der Umsetzung der Klöppelspitze selbst liegt ein Teil dieser Schwere: kein vollkommen glattes Ornament sondern ein von Hand errungener Prozess, in dem sich Kraft, Widerstand, Konzentration und Zufall begegnen. Spuren des Machens bleiben sichtbar. Gerade darin entsteht ein Brückenschlag zwischen der rauen Welt des Bergbaus und der filigranen Klöppeltechnik. Im Erzgebirge gehören sie untrennbar zusammen, nicht nur historisch. Feinheit entsteht hier nicht nur aus Zartheit sondern auch aus Härte.
Die künstlerische Gestaltung des Notenbandes greift diesen Zusammenhang auf. Zwischen Grobheit und Detail, zwischen Last und Linie entsteht eine visuelle Übersetzung der musikalischen und kulturellen Tiefe, die das kulturelle Erbe des Erzgebirges bis heute in die Welt trägt. Ein offenes Ende symbolisiert, dass die Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben ist, der tiefste aller Töne ohne Schallplatte, dass die Ursprünge nicht in ihrer Gänze sichtbar sind.
Kurzfassung
Die künstlerische Gestaltung zum Notenband setzt sich mit dem Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung auseinander. Zwei Kräfte, die im Erzgebirge untrennbar miteinander verbunden sind. Das Steigerlied und die Klöppelkunst stehen exemplarisch für diesen Prozess. Was heute als identitätsstiftend gilt, entstand aus Bewegung, Austausch und Anpassung. Raues Trägermaterial, sichtbare Spuren des Arbeitsprozesses und ein bewusst gebrochener Umgang mit dem
Filigranen schaffen eine Brücke zwischen der körperlichen Härte des Bergbaus und der scheinbaren Leichtigkeit textiler Technik. So wird das kulturelle Erbe nicht nur zitiert, sondern in eine visuelle Form übersetzt, die Härte und Feinheit gleichermaßen sichtbar macht.
Facts
Es musste ein optisch filigranes Muster verwendet werden, dass jedoch den äußeren Anforderungen von mehrfachem Transport und Handling auch durch andere Hände relativ verzugsfest entgegenstehen kann. Alle musikalischen Bestandteile mussten versetzbar bleiben für die Anpassung an 5 Einzelbänder und sind somit als Applikation optisch sichtbar provisorisch angebracht. Die Schallplatten sind nur zur kurzfristigen Anbringung während der Präsentation gedacht, da sie sich unter
Wetterbedingungen verändern können. Dennoch wurde jede einzelne mit Splitterschutzfolie beklebt, ausgeschnitten, geschliffen, mit einem Makrameemantel versehen und festgenäht.
Herausforderungen
1.) Eine Variante der Noten finden, die möglichst wenig Notenwerte unterhalb oder oberhalb enthält; geprüft durch Stadt Ehrenfriedersdorf.
2.) Das Gewicht des bestückten Klöppelsackes sowohl im Handling (weiterdrehen alle 20-25 cm) sowie dessen Stabilität.
Veränderte Erfordernisse
Die ursprünglich geplante Ausführung von 5 kürzeren Einzelbändern à 9-10 m von vornherein wurde zugunsten des Rekordversuches verworfen. Stattdessen wurde das Band in einem einzigen durchgehenden Stück realisiert, welches nach der Präsentation auf 5 Einzelbänder zerteilt werden sollte. Dies bedeutete einerseits zusätzliche Länge, um genug Material für die spätere Umarbeitung einfließen zu lassen - statt 45 – 50 m nun eigentlich sogar 65 m, welche dann im Nachgang auf die aktuelle Präsentationsfläche von 62,85 m wieder gekürzt wurden. Auch erforderte die Umstellung zum einem einen erheblichen logistischen Mehraufwand insbesondere durch Materialgewicht, Handling und Notwendigkeit einer durchgehenden Arbeitsstruktur ohne modulare Teilung des reinen Notenbandes, so dass dieses sich verändernden Erfordernissen angepasst werden kann. Die Hängung der Präsentation des Gesamtbandes wurde der Künstlerin erst kurz vor Fertigstellung bekannt gegeben, so dass auch hier noch einmal eine kurzfristige Anpassung der Konzeption vorgenommen werden musste hinsichtlich der Aufteilung, da die ursprünglich einfacher umzusetzende gleichmäßige Struktur hier konzeptionell nicht passend gewesen wäre.
Hinzu kam der veränderte Präsentationskontext an sich. Statt der ursprünglich vorgesehenen Nahbetrachtung erfolgt nun kurzfristig die Rezeption aus größerer Entfernung. Dies hat Auswirkung auf die gestalterische Wirkung, insbesondere auf Kontraste, war das Werk durch die Nähe doch ursprünglich in monochromen Weiß gedacht in Anlehnung an die klassisch monochrom geklöppelten Spitzenborten. Bei bereits bestehenden Teilen war nun eine nachträgliche Anpassung nur noch bedingt möglich.
Der Weltrekord
Ein Rekord verbunden mit einem Werk, das Traditionen zusammenführt, die das Erzgebirge geprägt haben wie kaum etwas anderes.
Bergbau, Musik und Klöppelspitze – Ausdruck von Kraft und Feinheit, von Tiefe und Geduld. Drei kulturelle Linien, die aus derselben Landschaft stammen, durchaus gemeinsam gedacht, aber selten in einem Werk miteinander verwoben wurden.
Freie Kunst ist Resonanzraum und Reflexionsfläche. Sie entzieht sich festgelegten Funktionen, öffnet neue Sichtachsen und schafft Räume, in denen Vielfalt nicht behauptet, sondern erfahrbar wird. In ihrem offenen, unabhängigen Prozess liegt ihr gesellschaftliches Potenzial: Sie ermöglicht Begegnung, hinterfragt Konventionen und bringt zum Ausdruck, was im Alltag oft leider in bleibt.
Gerade dort, wo Traditionen stark codiert sind, kann freie Kunst neue Lesarten ermöglichen – nicht im Widerspruch zur Geschichte, sondern als Weiterführung. Wenn kulturelles Erbe nicht nur bewahrt, sondern neu gedacht wird, entstehen Formen, die verbinden: Vergangenheit, Gegenwart, Perspektive.
Das geklöppelte Steigerlied steht exemplarisch für diesen Ansatz. Es bringt historische Linien in einer Form zusammen, die nicht illustriert, sondern eigenständig reflektiert. In der Übertragung von Musik in Textil verdichten sich Geschichte, Material und Geste zu einem Erzählraum, der nicht abgeschlossen, sondern offen bleibt.
So zeigt sich, wie freie Kunst auch jenseits institutioneller Rahmen wirkt. Und gerade dadurch unverzichtbar bleibt.
Zu sehen ab sofort auf dem Sauberg in Ehrenfriedersdorf
Ein hErzliches Dankeschön an alle, die diese Idee mit entwickelt und mitgetragen haben – mit offenen Ohren, wachen Augen und dem Mut, Neues zuzulassen. An die Fördernden, die Organisationstalente im Hintergrund und an alle, die in „modernem Zeich“ nicht den Bruch sondern die Weiterführung der Geschichte sehen. Ohne euch wäre dieser Faden nicht ins Drehen und Kreuzen gekommen.
Glück auf! ⚒️
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Text & Fotos: Anett Schuster