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Schriftsteller, Übersetzer, Verleger – Viktor Kalinke hat viele Talente. Nach dem Psychologie- und Mathematikstudium in Dresden, Leipzig und Peking promovierte Kalinke an der Universität Leipzig und arbeitete zunächst in Kliniken und verschiedenen Gefängnissen Ostdeutschlands. 1998 gründete er zusammen mit der Graphikerin und Buchgestalterin Marion Quitz den Verlag Edition Erata, später umbenannt in Leipziger Literaturverlag. Für sein literarisches Schaffen wurde er nun für den Sächsischen Verlagspreis 2024 nominiert.

Herr Kalinke, woher kommt Ihre Begeisterung für die Literatur?
Vom Schreiben. Begonnen habe ich damit etwa in der siebenten Klasse. Damals habe ich entdeckt, wie ich mich mit einfachen Mitteln - einem Bleistift und einem leeren Schreibheft – in eine andere Welt hineinversetzen kann. Mein erstes "Buch" war ein zweihundertseitiger Roman, der sich um einen Schiffsjungen auf Weltumsegelung drehte. 

Schreiben ist eine Form der besitzlosen Aneignung der Welt. Und der Leser erntet die Früchte. Schreiben ist eine äußerst ökonomische und damit basisdemokratische Form schöpferischen Ausdrucks: Beim Musizieren brauche ich Instrumente, beim Malen Materialien und Werkzeuge usw. Vielleicht wird das Schreiben daher auch unterschätzt – es scheint nichts zu kosten. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar, dass Schreiben auch heute in der digitalisierten Kommunikationsgesellschaft weiterhin eine wichtige Basis bildet: Ohne die Literatur gäbe es keine Zeitung, keinen Film, keinen Blog im Internet. Schreibend können wir den Dingen an die Wurzel gehen, und daher finde ich es wichtig, dass wir der Literatur immer wieder und in immer neuen Formen zur Sichtbarkeit verhelfen.

Können Sie uns kurz Ihr Verlagsprogramm umreißen?
Einen Verlag zu betreiben, ist vor allem eine Art des Reisens, eine Fahrt erster Klasse durch Ideenlandschaften. Einen Verlag zu betreiben, heißt, Gefährte zu sein auf Wanderungen, die im Kopf stattfinden – und dabei die passenden Worte zu finden. Der Leipziger Literaturverlag versteht sich als Ort für Begegnungen und Grenzüberschreitungen: Literatur von den Rändern Europas, die in den Buchhandelsketten beinahe vollständig fehlt, füllt unser Programm. Etwa die Hälfte der Produktion beschäftigt sich mit der Übersetzung fremdsprachiger Literatur, oft in zweisprachigen Ausgaben, z.B. aus Litauen, Polen, der Slowakei, Russland, den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, aber auch aus Frankreich, Portugal, Spanien, Kuba, Amerika und China. Das Hauptaugenmerk des Verlages liegt in der sorgfältigen Auswahl der Titel und in einer gründlichen editorischen Vorbereitung der Publikationen. Im Falle von Übersetzungen fremdsprachiger Literatur wird die Qualität der Texte in der Regel durch die Zusammenarbeit mit hochkarätigen Übersetzern und den Kulturabteilungen der jeweiligen Herkunftsländer gesichert (z.B. dem Instituto Camões für Portugal, Institut Français, Buchinstitut Krakow, Books from Lithuania, Übersetzungsinstitut Moskau). Auf diese Weise ist es gelungen, einige Referenzausgaben in deutscher Sprache für Werke der Weltliteratur zu veröffentlichen, zum Beispiel die erste vollständige Übersetzung des zweitausend Jahre alten „Zhuangzi“ ins Deutsche, gewissermaßen die Bibel daoistischer Weisheit, oder eine repräsentative Auswahl der russischen Gegenwartslyrik der letzten 50 Jahre. 

Was schätzen Sie am Verlagsstandort Leipzig? Wie beflügelt er Sie in Ihrem Schaffen?
Leipzig war bis zum Zweiten Weltkrieg die wichtigste Buchstadt in Deutschland. Inzwischen rangiert Leipzig nach Angaben des Börsenvereins des deutschen Buchhandels nach Berlin, München, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt und Köln auf Platz 7 – wenn es um die Zahl der ansässigen Verlage geht. Und das, obwohl es nach 1989 zunächst einen verlegerischen Kahlschlag gab, der nicht nur Leipzig, sondern fast alle Verlage in der ehemaligen DDR betraf, mit der Ausnahme des Aufbau-Verlages. Persönlich finde ich es sehr angenehm, in Leipzig tätig zu sein: Die Leipziger Buchmesse und „Leipzig liest“ werden zum Heimspiel, an der HTWK werden Verlagswirtschaftler und Verlagshersteller ausgebildet, das Haus des Buches bietet Veranstaltungsräume... In Leipzig sind einige hochaktive literarische Vereine zu finden wie etwa der Übersetzerverein FÄHRE, der Bibliophilenabend, der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie, die Kurt-Wolff-Stiftung, die hier ihren Sitz hat, oder die „Buchkinder“, die mit einem Kindergarten eine ganz ungewöhnliche Form der Nachwuchsförderung entwickelt haben und überregional Sympathien für das Buch wecken. Leipzig bietet einen angenehmen und anregenden Rahmen zum kreativen Arbeiten. Die Stadt ist überschaubar, hat kurze Wege, und man findet schnell ins Grüne. 

Was sind die größten Windmühlenflügel, mit denen kleine und unabhängige Verlage in Sachsen Ihrer Meinung nach kämpfen müssen?
Wenn mich als Kind jemand gefragt hätte, was ich werden wolle - ich wäre niemals auf die Idee gekommen zu antworten: Ich werde Verleger. War es vor 1989 die politische Restriktion, die, wenn es ginge, schon den Gedanken an selbständiges Publizieren verboten hätte, so ist es in der Gegenwart die Absurdität des übersättigten Buchmarktes, der eine Verlagsgründung in eine Don-Quichotterie verwandelt. Ich betrachte das gedruckte Buch als Ausdruck des ungebrochenen Werkverlangens des Autors. Es trotzt aller postmodernen Dekonstruktion, bleibt unbefriedigt durch eBooks und fühlt sich in der Gestaltungshöhe herausgefordert von den neuen Medien. Doch ich möchte die unterschiedlichen Kanäle gar nicht gegeneinander ausspielen. Letztlich sind sie aufeinander angewiesen. Der Erfolg eines Buches auf dem Markt hängt nicht nur von seiner Qualität ab, sondern auch davon, ob es in der überregionalen Presse und im Rundfunk wahrgenommen wird. Der Verkaufserfolg eines Buches wiederum ist eine Voraussetzung für eine eventuelle spätere Verfilmung – die in der Regel weitaus mehr Menschen erreicht als das Buch selbst. Dieses produktive Ineinandergreifen der Sparten ist in Sachsen noch unterentwickelt, oder mit anderen Worten: Es hat hierzulande noch Potential. 

Welches Buch lesen Sie gerade?
Ich lese selten nur ein Buch, sondern meistens mehrere gleichzeitig, allerdings nicht zur gleichen Zeit. Inspiriert von der „Langen Nacht zur jiddischen Literatur“, habe ich mir vor ein paar Tagen das „Ma’assebuch“ besorgt, ein herrliches Kompendium der altjiddischen Erzählkunst, in dem sich vieles Verdrängtes und Vergessenes findet, das auch unser Land geprägt hat. Seit dem Herbst lese ich im chinesischen Original – das dauert dann ein bisschen länger – ein Kapitel aus dem „Ishinpo“, dem ältesten Lehrbuch der Medizin, das in Japan erschienen ist und von einem berühmten chinesischen Arzt aus dem zehnten Jahrhundert stammt. Es enthält viele Weisheiten in Bezug auf Fragen der Gesundheit und der Lebensweise, die uns in der Industriegesellschaft verloren gegangen sind. 

Was bedeutet für Sie „typisch Sächsisch“?
Bei „typisch sächsisch“ denke ich an das eigensinnige Denken, das einerseits zur sächsischen Ingenieurskunst und Gewieftheit beigetragen hat. Es gibt so viele praktische Erfindungen aus Sachsen, die heute unseren Alltag prägen - Porzellan, Bierdeckel, Tageszeitungen, Teebeutel, Milchschokolade, die Ferneisenbahn, Thermoskanne, Reiseschreibmaschine, Spiegelreflexkamera, Herz-Lungen-Maschine, Tischrechner, biegsame Solarfolien aus Dresden oder organische Solarzellen aus Chemnitz. Zum anderen kennzeichnet dieser Eigensinn auch so etwas wie eine „sächsische Spiritualität“, die ich mit Jacob Böhme, den Herrnhuter Brüdern, Johann Sebastian Bach, Caspar David Friedrich und Carl Gustav Carus, Novalis, Karl Christian Friedrich Krause, Dostojewski und seinen Dämonen, Gustav Theodor Fechner oder Wilhelm Klemm verbinde. Sie fand vielleicht ihre Fortsetzung in der sogenannten „sächsischen Dichterschule“, also Leuten wie Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Franz Hodjak, Kito Lorenc, Heinz Czechowski, Peter Gehrisch, Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher, Adel Karasholi und Peter Geist, die für mich bereits wichtig wurden, als ich noch nicht in Sachsen gelebt habe: Ihre Stimmen waren über Sachsen hinaus vernehmbar. Im ländlichen Raum habe ich eine große Nachbarschaftshilfe und Verbundenheit erlebt. Auch das ist „typisch sächsisch“. Speziell auch bei Sorben, mit denen ich befreundet bin. Überhaupt erinnern mich die Orts- und Flurnamen in Sachsen täglich an die slawischen Vorfahren, die hier gelebt haben. Auch wenn sie manchmal gar nicht so leicht auszusprechen sind (z.B. Zschochersche Straße), finde ich sie wunderbar poetisch.

Wann haben Sie sich das letzte Mal – und warum – so richtig über Ihre Landsleute geärgert?
Schwierige Frage, ich ärgere mich selten. Am ehesten vielleicht, wenn ich versuche, Radwege in den sächsischen Metropolen zu benutzen. Die haben oft die Eigenart, dann aufzuhören, wenn sie besonders wichtig wären, nämlich an Kreuzungen. Da steht dann dreißig Meter vorher so ein Schild „Radweg Ende“. Warum führen sächsische Verkehrsplaner die Radwege nicht einfach parallel zu den Autospuren in die Kreuzung, wie anderswo gang und gäbe?

Welche Klischees über die Sachsen regen Sie am meisten auf?
Angeblich sind in Sachsen alle rechtsextrem und „dunkeldeutsch“. Solche Zuschreibungen nerven, besonders wenn sie von hochrangigen Politikern geäußert werden.

Wie ist es Ihrer Meinung nach um das Image Sachsens bestellt?
Für diejenigen, die ihr Weltbild überwiegend aus Medienkonsum und weniger aus Büchern beziehen, scheint der Ruf Sachsens der Lebensqualität, die hier möglich ist, nicht gerecht zu werden. Diese Diskrepanz zeigt sich vor allem bei Menschen, die nicht in Sachsen wohnen oder noch nie hier waren, aber glauben, über Sachsen urteilen zu können. Das Phänomen betrifft aber nicht nur Sachsen, sondern alle ostdeutschen Bundesländer. In der Praxis heißt das, dass Absolventen aus Sachsen bei gleichen oder besseren Leistungen auf dem westdeutschen und westeuropäischen Arbeitsmarkt schlechtere Chancen haben. Das tut mir schrecklich leid. Denn diese Absolventen wurden in aller Regel nach 1990 geboren oder stammen von Eltern ab, die erst nach 1990 in den Osten gekommen sind. Ich finde es verrückt, wie hartnäckig sich in Deutschland gruppenbezogene Vorurteile halten können. Auch gegenüber Sachsen.

Wäre Sachsen ein Buch, welchen Titel würden Sie ihm geben?
Nun, das kommt darauf an. Wenn es ein Sachbuch wäre, dann vielleicht „Sachsen: Legenden und Wirklichkeit“, ein Buch über das Alltagsleben eher „Sachsen: die Magie der kleinen Dinge“.